Elke – Zu Newsletter 006

Elke

Elke lebt in Berlin, im Stadtteil Friedrichshain, nahe am S-Bahnhof Ostkreuz.

Elke heißt eigentlich Anna, aber ich nenne sie hier Elke, um ihre Anonymität zu wahren.

Sie ist Anfang 20 und studiert Kunstgeschichte und Germanistik an der freien Universität Berlin, was ihr sehr gut gefällt. Sie stört sich nicht an den überfüllten Hörsälen oder Bibliotheken. Sie findet immer ihren Platz und dass sie in der Mensa mit vielen anderen in der Schlange steht, ist ihr nicht unangenehm.

Elke liebt Berlin und ist froh, der süddeutschen nachbarschaftlichen Überwachung ihrer Heimatstadt entflohen zu sein. Sie genießt es, anonym in Menschenmassen einzutauchen, in Menschenmassen zu verschwinden, sich mit Menschenmassen zu bewegen wie ein Fisch in einem Schwarm. Am liebsten ganz mittendrin.

Ursprünglich hatte sich Elke mit engagierter Unterstützung ihrer Elternteile für ein Musikstudium entschieden: Cello. Sie war oder ist eine ziemlich gute Cellistin; das zumindest sagte man ihr. Nun aber steht das Cello unbehelligt in der Ecke ihres WG-Zimmers und schweigt vor sich hin.

Elke ist dankbar darüber, keine Cellistin mehr werden zu wollen oder werden wollen zu sollen. Sonst hätte sie nie ihr jetziges Leben, das sie sehr liebt, kennen gelernt. Ohnehin konnte sie der weinerliche, depressive Gesang ihres Cellos immer weniger beflügeln. Vielleicht hat es auch deswegen mit der Aufnahmeprüfung nicht geklappt.

Der Musik aber ist Elke treu geblieben. Musik ist der Teil ihres Lebens, in dem sie ganz aufgehen kann, ohne den sie sich ein Leben gar nicht mehr mehr vorstellen kann. Aber ihre Musik ist nun freier, viel freier als früher, ganz frei, richtig frei. Elke spielt nun Bass, E-Bass. Und sie singt.

Zusammen mit ein paar anderen Leuten ist sie gerade dabei, eine Band zu gründen. Sie experimentieren in einem Gemisch aus Metal, Electronic und Jazz. Und sie verstehen sich gut; durch die Musik eben.

Sie haben auch einen Proberaum gefunden im RAW-Gelände im Friedrichshain; dort, wo sie sich auch bei einem Konzert kennen gelernt hatten. Es war voll damals; übervoll. Wäre es nicht so übervoll gewesen, hätten sie sich wahrscheinlich nicht so leicht gefunden.

Dieses RAW-Gelände war einmal ein Reichsbahn-Ausbesserungswerk oder ein Reichs-Ausbesserungswerk. Was genau da früher einmal ausgebessert wurde, weiß Elke gar nicht so genau. Es muss aber irgendetwas mit Zügen zu tun gehabt haben. Jetzt ist dieses Gelände ein sensationeller Freiraum für alle möglichen Versuche, sich kreativ auszuleben, sein Leben kreativ zu gestalten.

Elke lebt in einer WG mit 7 Leuten; insgesamt sind sie also zu acht. Die meisten, nämlich sechs, sind Studentinnen. Anne, sie heißt wirklich so, ist Floristin. Und Carl lebt dort auch; entweder gehört ihm die Wohnung oder zumindest ist er der Hauptmieter. Jedenfalls hat Elke nach einer allgemeinen Besichtigung der WG und einer besonderen Besichtigung von Elke durch die WG ihren Mietvertrag mit Carl ausgehandelt.

Anne, die Floristin, steht Elke am nahesten. Wer Anne nahe steht, weiß man nicht so genau. Anne ist ruhig, sehr ruhig, spricht kaum. Dabei ist sie nicht schüchtern; sie bewegt sich ganz frei und ganz ungehemmt. Aber reden – und erst recht freundlich reden, überhaupt freundlich sein, ist einfach nicht ihr Ding. Das überlässt sie gerne den anderen.

Elke redet auch nicht viel, aber sie ist freundlich. Sie ist freundlich und besitzt eine unaufdringliche, aber bestimmte Präsenz. Vielen Menschen Ihrer Umgebung ist das sehr angenehm; kurz: Elke wird von vielen gemocht. Allerdings ohne dass es bisher in Elkes Leben enge Freundschaften geben würde.

Elke hat blondes, langes Haar, das sie manchmal zu einem Pferdeschwanz bindet, der dann, wenn sie geht, lustig hinter ihr her tanzt. Dazu geht Elke sehr aufrecht und zielsicher, bestimmt. Damit zieht sie Blicke auf sich, was sie jedoch gar nicht will. Sie versucht alles zu ignorieren, was auch nur im entferntesten einen persönlichen Kontakt anbahnen könnte.

Elkes aufrechter, sicherer, bestimmter Gang wird durch die Stiefeletten, die Elke fast das ganze Jahr hindurch trägt, noch unterstrichen. Sie besitzt eine ganze Galerie von Stiefeletten, in fast allen gängigen Farben und Formen. Zu ihnen trägt sie dann immer die gleiche Art enger, hellblauer Jeans und ein unauffälliges, geschlossenes, zu den Stiefeln farblich abgestimmtes Oberteil. So kann sie sich immer und überall ansehnlich und ohne groß aufzufallen im Schwarm der sie umgebenden Menschen bewegen.

Anonyme Nähe ist gut – private Nähe ist nicht gut – alleine sein ist auch nicht gut. Das scheint Elkes Lebensmotto zu sein. Deshalb liebt sie es auch so sehr, unerkannt, anonym unter vielen Menschen zu sein. Sei es in der Uni, in der U-Bahn, in der S-Bahn oder beim Umsteigen auf der Warschauer Brücke: Voll, gerne auch gerammelt voll, ist ihr lieber als halbvoll oder gar leer. Halbvoll oder leer macht Angst.

Bei halbvoll weiß sie nie, ob jemand vielleicht durch Blicke oder wie auch immer Kontakt zu ihr herzustellen versucht. Das will sie nicht. Deshalb vergräbt sie sich dann entweder in ein Buch, das sie in andere Welten führt, oder sie tut so, als gäbe es etwas Interessantes in ihrem Smartphone nachzuschauen.

Leer ist auch schlecht, weil irgendwann kommt ja irgendwer und dann ist das gleich wieder so ähnlich wie bei halbvoll.

Was sie überhaupt nicht leiden kann, ist: Alleine auf der Brücke irgendjemandem zu begegnen. Deshalb schließt sie sich immer einem kleinen Schwarm an, tut so, als ob sie dazugehöre und schwimmt so geschützt ihren Weg.

Sie will niemandem begegnen, niemanden kennenlernen, erst recht nicht jemanden wirklich tief und vertraut kennen lernen. Das ist ihr zuwider und sie versteht auch nicht, wieso andere das wollen. Sie will keine Vertrautheit. Sie will nicht allein sein, sie will unter vielen Menschen sein, aber sie will in Ruhe gelassen werden. Elke will niemandem vertrauen können und niemandem vertrauen müssen. Denn dieses Vertrauen wird ja doch nur irgendwann gebrochen und das zerstört dann das Leben. Das weiß Elke. Das weiß sie aus Erfahrung und sie hat daraus gelernt; schließlich ist sie jetzt erwachsen. Niemals wieder wird sie jemandem vertrauen. Dann kann ihr Vertrauen nicht enttäuscht werden. Und sie kann nicht verlassen werden.

Verlassen zu werden … . Das ist Elkes ständige Befürchtung. Das ist die Angst, die sie ständig, Tag für Tag, begleitet. Dass ist die Angst, die Elke ständig, Tag für Tag, fühlt und erlebt. Aber das sieht man ihr nicht an. Und niemand käme jemals auf den Gedanken, eine solche Angst bei Elke zu vermuten. Das ist auch gut so. Genau so soll es auch sein!


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